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'Drittes Reich' und Weltkrieg in der Provinzstadt - Zeitkritische Betrachtungen aus den Tagebüchern des Gießener Schriftstellers Georg Edward

Historische Streifzüge #3

Giessen kommt mir um vieles enger, beschränkter und spiessbürgerlicher vor als bei meinem letzten Besuch vor zwanzig Jahren. Es ist mir, als ob ich ersticken müsste. Immerhin sieht die Bevölkerung gut aus, lebhafter, beweglicher und geschmackvoller gekleidet als ehemals.

Dies ist der erste  Eindruck von seiner Geburtsstadt, den der Heimkehrer Georg Edward (1869-1969) am 30. Mai 1931 in sein Tagebuch notiert. Fast vierzig Jahre war der Poet, Literaturwissenschaftler und frühere Journalist erfolgreich in Amerika tätig: Zunächst als Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität von Evanston, dann als Direktor der dortigen Benjamin-Franklin-Bibliothek. Als er diese exponierte Position jedoch aufgeben musste, machte er sich - 61-jährig - im Mai 1931 auf die Heimreise nach Deutschland, kam also am 28. Mai in Gießen an und bezog wieder das Vaterhaus in der Westanlage 49.

Die "Villa Geilfus" in der Westanlage 49 (Baujahr: 1885), Aufnahme von 1931 (Stadtarchiv Friedberg) © Stadtarchiv Friedberg
Die "Villa Geilfus" in der Westanlage 49 (Baujahr: 1885), Aufnahme von 1931 (Stadtarchiv Friedberg) © Stadtarchiv Friedberg

 

Nach all den Jahren in der 'Neuen Welt' versucht er sehr schnell, ein provinzielles Leben in Gießen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Durch regelmäßige 'Fluchten' per Flugzeug oder Bahn in die benachbarte Großstadt Frankfurt kultiviert er folglich seinen 'American Way of Life'. Oft bleibt er mehrere Tage dort, besucht Theater, Cafés, Varietés; flaniert durch die Straßen, hat anregende Begegnungen und schreibt im Hotel "Englischer Hof" fleißig an seinen Gedichten und Romanen.  Er führt das Leben eines gebildeten Bonvivant, eines Ästheten und Kavaliers der alten Schule.

Der alltägliche Nazi-Terror in der Stadt

Die Zeiten aber haben sich geändert, das kultivierte Leben gerät in Gefahr. Denn immer näher rücken die Nationalsozialisten und deren zunehmend fanatischer werdende Anhängerschar in Georg Edwards Blickfeld. Dem großbürgerlichen, gesitteten Schöngeist stößt dabei zuallererst das vulgäre, rabiate Auftreten der braunen Gefolgsleute übel auf.

"Hitler Reichskanzler" notiert er am 30. Januar 1933 empört und außer sich in sein Tagebuch. "Eine furchtbare Aussicht für die Zukunft! Die Strassen voll von braunen Kerlen, die stolz einherstampfen und rufen 'Juda verrecke !' So tief sind wir jetzt gesunken. Roheit und Brutalität triumphieren.

Die Eskalation der Entrechtung, Demütigung und Enteignung der jüdischen Mitbürger lässt ihn schier verzweifeln – zumal er auch ein indifferentes Mitläufertum der meisten Gießener wahrnehmen muss. Am 13. März 1933 beschreibt er den nunmehr alltäglichen Nazi-Terror in der Stadt:

Unerhörter Terrorismus der Sturmabteilung und der Schutzstaffel der Nationalsozialisten, die jetzt Polizeigewalt haben, was bedeutet, dass sie tun können, was ihnen beliebt. Um 10 Uhr ging ich in die Stadt und fand alle jüdischen Warenhäuser auf Befehl dieser Burschen geschlossen, und es wurde erzählt, sie hätten am frühen Morgen die Juden aus den Betten geholt, sie zu ihrer Kneipe auf dem Seltersweg geschleppt, sie geschlagen und misshandelt und schliesslich gezwungen, einen Schein zu unterzeichnen, wonach sie erklärten, sie würden nichts gegen die neue deutsche Regierung unternehmen.

Verfolgung von NS-Gegnern 1933: Vor der Gastwirtschaft Heinrich Ruhl (Württemberger Hof) in der Bahnhofstraße 15 werden am 13. März 1933 politische Gegner abgeführt (StdtAG)
Verfolgung von NS-Gegnern 1933: Vor der Gastwirtschaft Heinrich Ruhl (Württemberger Hof) in der Bahnhofstraße 15 werden am 13. März 1933 politische Gegner abgeführt (StdtAG)

 

Auf dem Seltersweg war ich Zeuge eines empörenden Schauspiels: Privatdozent Dr. Georg Meyer von zwei Dutzend vulgär aussehenden, mit Flinten bewaffneten Burschen von der nationalsozialistischen Sturmstaffel eskortiert. Die Leute auf der Strasse schienen in der Mehrzahl mit dieser Brutalität einverstanden zu sein, nur wenige zeigten Überraschung oder Abscheu auf ihren Gesichtern. Als ich meine Empörung offen aussprach, wurde mir sofort mit Verhaftung gedroht. Ich ging weiter in der Hoffnung, einen Polizisten aufzutreiben, aber keiner liess sich blicken.

Auszug aus Tagebucheintrag vom 13. März 1933 von Georg Edward (StdtAG, 86/48 h, Faksimile) : »Die Leute auf der Straße schienen in der Mehrzahl mit dieser Brutalität einverstanden zu sein, nur wenige zeigten Überraschung oder Abscheu auf ihren Gesichtern.«
Auszug aus Tagebucheintrag vom 13. März 1933 von Georg Edward (StdtAG, 86/48 h, Faksimile) : »Die Leute auf der Straße schienen in der Mehrzahl mit dieser Brutalität einverstanden zu sein, nur wenige zeigten Überraschung oder Abscheu auf ihren Gesichtern.«

 

Georg Edwards Tagebuchaufzeichnungen werden nun mehr und mehr zu bitteren Protokollen der verbrecherischen nationalsozialistischen Untaten. Tag für Tag muss er die völkischen und antisemitischen Hetzkampagnen zur Kenntnis nehmen. Seine Entrüstung wächst, und er schämt sich, ein Deutscher zu sein. Schon bevor die permanente Agitation und körperliche Gewalt gegen die 'nicht-arischen' Mitbürger ihren Höhepunkt in der Deportation der letzten Gießener Juden am 16. September 1942 erreichen, entwickelt Georg Edward aber aus seiner Empörung heraus eine lebensgefährliche, gleichsam todesmutige Zivilcourage. Er hilft entrechteten Bürgern, indem er ihnen bei ihren Ausreise- und Fluchtabsichten als Dolmetscher oder Vermittler in die Vereinigten Staaten mit Rat und Tat zur Seite steht. Auch wird das Haus in der Westanlage zum zwischenzeitlichen Asyl für manchen Verfolgten.

Die Bombenangriffe am 6. Dezember 1944

So werden seine Lebenserinnerungen aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ zu mahnenden Quellen für die Gießener Geschichts- und Kulturforschung. Ein Beispiel dafür sind auch seine um Atem ringenden Eintragungen nach dem Horrorerlebnis der britischen Bombenangriffe am Abend des Nikolaustages 1944, bei denen die Stadt zu über 70% zerstört wurde und fast 400 Menschen den Tod fanden.

Blick auf Marktplatz und Marktstraße nach der Zerstörung 1944 (StdtAG)
Blick auf Marktplatz und Marktstraße nach der Zerstörung 1944 (StdtAG)

1944: 6. Dezember
Um 730 Uhr gab es Fliegeralarm und gleichzeitig hörte man Bomben ganz in der Nähe explodieren. Ausser mir stiegen alle in den Keller hinab. Aber Jurek kehrte schon bald wieder zurück, riss mich aus dem Bette und sagte: „Hören Sie nicht, dass die Stadt angegriffen wird? Es brennt schon an allen Ecken und Enden!“ Tatsächlich hörte man furchtbares Krachen und Aufheulen, als ob die Hölle losgelassen sei. Ich stand rasch auf und Jurek führte mich in den Keller. Draussen war es taghell, die meisten benachbarten Häuser standen bereits in hellen Flammen. Meine beiden Schwestern waren sehr ruhig, aber jeder neue Bombenschlag erschütterte das Haus in seinen Grundfesten und ich war mehrmals der Überzeugung, es sei getroffen und zum Teil zusammengestürzt. Die jungen Polen beteten laut und einstimmig in ihrer Sprache, der Keller war durch die draussen lodernden Brandbomben hell erleuchtet. Der Angriff dauerte etwa vierzig Minuten, nur kam es einem vor, als seien es ebensoviele Stunden. Ich hielt es nicht lange im Keller aus, sondern ging in mein Zimmer hinauf, und als ich die Tür öffnete, sah ich, dass eine Bombe durch die Decke gegangen war und das Zimmer in Brand gesetzt hatte.

Auszug aus Tagebucheintrag von Georg Edward vom 6. Dezember 1944 (StdtAG, 86/48 h, Faksimile): "Der Angriff dauerte etwa vierzig Minuten, nur kam es einem vor, als seien es ebensoviele Stunden."
Auszug aus Tagebucheintrag von Georg Edward vom 6. Dezember 1944 (StdtAG, 86/48 h, Faksimile): "Der Angriff dauerte etwa vierzig Minuten, nur kam es einem vor, als seien es ebensoviele Stunden."


Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges klingt in den Tagebüchern Georg Edwards noch lange die schmerzhafte Aufarbeitung des 'Dritten Reiches' nach. Den "Zusammenbruch unserer Kultur und (den) Rückfall der Deutschen ins Barbarentum" hatte er immer wieder schmerzlich und mahnend vorausgesehen; und es währte lange, bis die ersten Wunden zu heilen begannen.

Er hält nun Rückschau, reflektiert sein eigenes Leben und Wirken und überdenkt den Sinn seiner umfangreichen, Jahrzehnte währenden Tagebuch-Aufzeichnungen. Der Grandseigneur ist in Gießen eine angesehene, gar bewunderte Persönlichkeit geworden. "Keine Zeile, die ich geschrieben, kein Reim, den ich fabriziert habe, wird weiterleben", hatte er einmal im hohen Alter von 86 Jahren wehmütig in sein Tagebuch notiert - nicht ahnend, dass gerade seine täglichen Lebensnotizen und Betrachtungen aus den Zeiten des 'Dritten Reiches' von so nachhaltiger Bedeutung für die Gießener Nachwelt werden könnten. 

Die 13 Tagebuch-Bände mit ihren rund 4.100 Seiten, die seine Nichte Auguste "Guti" Wagner (1900-1987) dem Stadtarchiv aus seinem Nachlass zueignete, sind zu Recht zu kulturgeschichtlichen Zeugnissen von beachtlichem Rang, zu Archivschätzen geworden!


Literaturtipp zu Georg Edward:

Bayerer, Wolfgang / Hauschild Brigitte

Georg Edward zu Ehren. Ausstellung der Universitätsbibliothek Gießen zum 125. Geburtstag des Poeten am 13. Dezember 1994 - Vorträge, Katalog, Kommentare, Nachträge, Ergänzungen

Universitätsbibliothek Gießen, 1996, 382 Seiten.

 

Quelle: Eckhard Ehlers/Stadtarchiv

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