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Der Gießener Jude Isaak Rothenberger auf der Suche nach Heimat

Historische Streifzüge #4

Isaak Rothenberger stellt einen Antrag

Am 20. Juli 1844 stellte Isaak Rothenberger beim Gemeinderat der Stadt Gießen den Antrag auf Aufnahme in die Bürgerschaft.

Der Antragsteller war am 4. November 1817 als jüngster Sohn des Gießener Schutzjuden Löb Rothenberger in Gießen geboren worden. Er war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt, hatte den Beruf des Buchbinders gelernt und war während seiner Ausbildung in Gießen zwei Jahre bei seinem Lehrmeister, dem Buchbinder Heinrich Schlund, in die Lehre gegangen. Zwei weitere Jahre hatte er beim hiesigen Buchbinder Loos und eineinhalb Jahre bei Buchbinder Selper gelernt. Danach arbeitete er neun Monate als Geselle bei einem darmstädtischen Buchbinder.

Rothenberger hatte seinen Militärdienst abgeleistet. 1838 war er eingezogen worden und hatte im April des Jahres 1844 den ehrenvollen Abschied erhalten. Hiernach nun wollte er sich in Gießen als Buchbindermeister niederlassen.

Dem Gemeinderat in Gießen lag das förmliche Gesuch am 27. Juli 1844 vor. Rothenberger schilderte darin seine persönlichen Verhältnisse und bat darum, ihm

"das Ortsbürgerrecht geneigtest ertheilen, und zugleich bei Großherzoglichem Kreisrath dahier berichtlich darauf antragen zu wollen, daß mir von der höchsten Staatsbehörde auch das Staatsbürgerrecht ertheilt werden möge".

Lindenplatz um ca. 1890 - Die Familie Rothenberger wohnte lange Zeit am Lindenplatz 8, (StdtAG, 81/5046, bearbeitet von L. Brake)
Lindenplatz um ca. 1890 - Die Familie Rothenberger wohnte lange Zeit am Lindenplatz 8, (StdtAG, 81/5046, bearbeitet von L. Brake)

Der Nachweis des Einzugsgelds gelingt nicht

Der Gießener Gemeinderat behandelte das Gesuch am 5. August 1844 und es erfolgte der Beschluss, dem Bittsteller

„das Ortsbürgerrecht zu bewilligen, wenn er sich über den Besitz des gesetzlichen Inferendums ausweisen werde“.

Dies wurde Rothenberger vom Bürgermeister Christian Silbereisen mitgeteilt. Je nach Größe der Kommune war die Höhe dieses nachzuweisenden Vermögens gestaffelt. Für Städte wie Darmstadt, Gießen, Mainz und Offenbach betrug das Inferendum 1.000 Gulden.

Damit hielt sich die Bürgermeisterei an die gesetzlich vorgegebenen Bestimmungen über die Aufnahme in die Bürgerschaft. Üblicherweise wurden die Söhne von Ortsbürgern mit der Vollendung des 25. Lebensjahres unter Ablegung des Bürgereids in die Bürgerschaft aufgenommen, wobei auch die fälligen Zahlungen und Gebühren entweder wegfielen oder in reduzierter Form gezahlt werden mussten.

Dies galt jedoch nicht für Juden. Isaak Rothenbergers Vater war zwar schon in Gießen ansässig, hatte aber als Schutzjude kein Ortsbürgerrecht erworben. Als Angehöriger der jüdischen Religion erhielt Isaak Rothenberger wie sein Vater zunächst nur den Status eines Schutzjuden und konnte somit nicht automatisch in die Bürgerschaft aufgenommen werden. Als Jude wurde er behandelt wie ein Ortsfremder und musste seine Aufnahme förmlich beantragen und das Inferendum nachweisen.

Dieser Nachweis konnte durch Vorlage von Bargeld, Vieh oder Handwerkszeug geschehen, war aber ebenso möglich durch das Vorzeigen von Schuldverschreibungen, wenn für letztere ein Herkunfts- und Eigentumsnachweis erfolgte.

Rothenberger legte „in Geld und Papieren den Betrag von 570“ Gulden vor. Den fehlenden Rest des Vermögenswertes konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht nachweisen, da er bereits 400 Gulden in sein künftiges Geschäft investiert hatte.

Der Gemeinderat beschloss daraufhin, ihm die Aufnahme so lange zu verweigern, bis er den Besitz des Restes des Betrages – 430 Gulden – nachgewiesen habe. Dabei blieb es bis Anfang Dezember 1845.

Verhandlungen um den zweiten Antrag

Zu diesem Zeitpunkt ließ Rothenberger durch einen Anwalt erneut um einen Termin zum Nachweis des Inferendums bitten. Er stellte seine eigene Rechtsposition klar: Er verwies darauf, das nötige Vermögen zu besitzen, in Form von Schuldverschreibungen der großherzoglich hessischen Staatsschuldentilgungskasse, Obligationen der Badischen Eisenbahn-Tilgungskasse, Schuldverschreibungen der Stadt Gießen und „baarem Geld“ im Wert von insgesamt 500 Gulden. Doch der Gemeinderat blieb bei seinem früheren Beschluss und fügte noch erläuternd hinzu:

„Nach dem Ministerialausschreiben vom 30. August 1837, die Bestimmung der Inferenden und Einzugsgelder für Neueinziehende betreffend, hat ein ortsfremder Inländer, dem die Israeliten gleichgerechnet werden, bei seiner Aufnahme ein Inferendum von 1000 Gulden nachzuweisen“.

Daraufhin richtete Rothenberger über seinen Anwalt eine weitere ausführliche Eingabe an den Gemeinderat. Denn seine Situation hatte sich mittlerweile entscheidend verändert. Er hatte sich verlobt und wollte heiraten.

Daher ließ er nun weitere Argumente aufführen, die für eine Aufnahme sprachen: seinen guten Ruf sowie seine Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, ein Handwerk auszuüben.

Grabstätte von Isaak Rothenberger auf dem jüdischen Gräberfeld des Alten Friedhofs © Dagmar Klein
Grabstätte von Isaak Rothenberger auf dem jüdischen Gräberfeld des Alten Friedhofs © Dagmar Klein

 

Rothenberger, so führte sein Anwalt aus, sei Soldat gewesen und habe den ehrenvollen Abschied erhalten. Er könne einen guten Leumund nachweisen, verstehe sein Buchbindergeschäft durch und durch und wäre nach menschlichem Ansehen, besonders aber

„bei seinem unverdrossenen Fleiß und seinem Rechtlichkeitssinn äußerst qualificirt, sich rechtlich ernähren zu können“.

Damit waren alle Punkte zur Zufriedenheit angesprochen, die der Gemeinderat bei der Bürgeraufnahme zu prüfen hatte. Doch es blieb noch immer der Nachweis des erforderlichen Vermögens.

In dieser Frage schlug der Anwalt einen Kompromiss vor. Er bat den Gemeinderat von seinem Ermessensspielraum, den die Gemeindeordnung hier bot, Gebrauch zu machen, da

„die Aufnahme des Antragstellers für die Stadt Gießen in keiner Beziehung nachtheilig werden“ könne. „Auf die verlangte Vermögensnachweisung wird es daher gewiß weniger (…) ankommen, da es als gewiß voraus zu sehen ist, daß Rothenberger und seine Verlobte sich durch ihren Fleiß und Geschicklichkeit in Wohlstand versetzen und jede Vermuthung entfernen werden, dass sie jemals dem Stadtaerar [Stadtvermögen] lästig fallen werden“.

Unter diesen Voraussetzungen drückte der Anwalt die Hoffnung des Bittstellers und seiner Verlobten aus,

„daß von weiterer Vermögensnachweisung benevolente abgestanden werde. Jedenfalls ist zugleich Rothenberger noch bereit, durch Handgelöbnis an Eides statt und selbst durch einen feierlichen Eid auf die Thora in der Synagoge es zu bekräftigen, daß er und seine Verlobte, abgesehen von der Forderung des Buchdruckers Schild dahier, mehr als 1.000 Gulden eigenthümliches Vermögen besitzen“.

Endlich am Ziel

Hierauf genehmigte der Gemeinderat schließlich am 11. April 1846, nach fast zwei Jahren, die Bürgeraufnahme Rothenbergers „unter der Bedingung, daß die Ehe zwischen den Brautleuten vollzogen wird“, und er stellte die Rechnungen für das nun zusätzlich fällige Einzugs- und Feuereimergeld aus. Nach Zahlung dieser Beträge wurde Rothenberger ins Gießener Bürgerregister eingetragen. Nun endlich, so schien es, hatte Isaak Rothenberger für sich und seine Braut die selbst gewählte Heimat in Gießen gefunden.

Doch die Angelegenheit war damit noch nicht erledigt. Denn nun machte das großherzogliche Kreisamt auf einen Verfahrensfehler aufmerksam. Isaak Rothenberger sei zwar als Orts-Bürger aufgenommen worden,

„während derselbe noch gar nicht im Besitze des Staatsbürgerrechts [ist – L.B.], das der Ertheilung des Ortsbürgerrechts doch vorausgehen muß“.

Das gesamte Verfahren war ungültig. Die Bürgermeisterei Gießen erhielt somit die Auflage, Isaak Rothenberger „alsbald in dem Bürgerregister wieder zu streichen“, und wurde zum Bericht aufgefordert.

Streichung des Eintrags vom 7. Mai 1846 zur Bürgeraufnahme Isaak Rothenberger im Bürgerverzeichnis (StdtAG, N 1912)
Streichung des Eintrags vom 7. Mai 1846 zur Bürgeraufnahme Isaak Rothenberger im Bürgerverzeichnis (StdtAG, N 1912)

 

Rothenberger wurde von der Gießener Bürgermeisterei allein durch seine Geburt in Gießen bereits als Inländer und hessischer Staatsbürger angesehen, wodurch der Antrag auf Erteilung des Staatsbürgerrechts unterblieben war.

Wegen der geltenden Rechtslage beharrte das Kreisamt jedoch auf seiner Ansicht: Da Rothenbergers Vater nur Schutzjude, nicht aber Staats- und Ortsbürger war, müsse Isaak Rothenberger zuerst das Staatsbürgerrecht erwerben, um danach das Ortsbürgerrecht erhalten zu können. Das Verfahren musste also erneut stattfinden.

Mittlerweile war Rothenberger fest entschlossen, seine Braut zu heiraten und hatte zusammen mit dem laufenden Einbürgerungsverfahren um die Erteilung eines „Heirathsscheins zum Behufe der Verehelichung mit Rosa Löwenstein“ nachgesucht. Schließlich wurde ihm am 26. August 1846 zunächst das Dekret über die Erteilung der Staatsbürgerschaft im Kreisamt ausgehändigt. Mit diesem Dokument begab sich Rothenberger sogleich in die Bürgermeisterei, wo er am selben Tag endgültig in das Bürgerregister eingetragen wurde.

Erneuter Eintrag von Isaak Rothenberger im Bürgerbuch mit Datum vom 26. August 1846 (StdtAG, N 1912)
Erneuter Eintrag von Isaak Rothenberger im Bürgerbuch mit Datum vom 26. August 1846 (StdtAG, N 1912)

 

Isaak Rothenberger hatte nach über zweijährigen Bemühungen und einigen bürokratischen Hindernissen das Verfahren um seine Einbürgerung erfolgreich zu Ende gebracht. Er war in seiner Geburtsstadt und Wahlheimat Gießen als Bürger aufgenommen worden, zusammen mit seiner Braut, Rosa Löwenstein, einer Ausländerin aus dem kurhessischen Frohnhausen.

Der Trauung stand nun nichts mehr im Wege. Zu diesem Zeitpunkt war Rosa Rothenberger bereits schwanger und brachte am 2. Oktober 1846 ihren ersten Sohn Leopold zur Welt.

Aus der Ehe mit Isaak Rothenberger gingen außer dem bereits genannten Leopold noch weitere vier Kinder (Julius, Amalie, Emil und Johanna) hervor. Rosa Rothenberger verstarb im Alter von 58 Jahren am 19.12.1878 in Gießen. Isaak Rothenberger erreichte das Alter von 75 Jahren und starb am 22. Mai 1893 ebenfalls in Gießen.

In den vorhandenen Unterlagen deutet nichts darauf hin, dass die Familie den städtischen Sozialkassen je zur Last gefallen wäre.

Wer mag, kann dies nachlesen in den Unterlagen des Stadtarchivs zur Aufnahme in die Bürgerschaft und dort erfahren, wie es anderen Antragstellern erging (vgl. StdtAG, L 190-II und -III).

Quelle: Dr. Ludwig Brake/Stadtarchiv

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