Leben

Seiteninhalt

Aufgaben und Geschichte des Stadtarchivs

Das Stadtarchiv Gießen ist eine öffentliche Einrichtung der Universitätsstadt Gießen. Sein Zuständigkeitsbereich ist die Stadtverwaltung Gießen. Nach seiner Satzung hat es die Aufgabe, in der Verwaltung angefallene Unterlagen, die zur Aufgabenerfüllung nicht mehr benötigt werden, zu übernehmen, auf Dauer aufzubewahren, zu sichern, zu erschließen und allgemein nutzbar zu machen. Aus der Fülle der alten Unterlagen muss eine Auswahl getroffen werden, bei der Wichtiges von Unwichtigem geschieden wird. Indem das Stadtarchiv diese Unterlagen bewertet und dabei über deren Archivwürdigkeit entscheidet, gestaltet es die historische Überlieferung, die für eine Beschäftigung mit der Gießener Geschichte und für die historische Forschung künftig zur Verfügung steht. Außerdem sammelt das Archiv für die Geschichte und Gegenwart der Stadt bedeutsames sonstiges Dokumentationsmaterial. Das Archiv fördert die Erforschung und die Kenntnis der Stadtgeschichte, wirkt bei ihrer Erforschung und Vermittlung durch Publikationen, Vorträge und Ausstellungen mit und arbeitet zu diesem Zweck mit anderen Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen zusammen.

Geschichte

Ein als solches bezeichnetes Archiv der Stadt Gießen begegnet uns in den überlieferten Akten der Verwaltung erstmals in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Unabhängig von der Bezeichnung ist seit dem Bau des alten Rathauses am Marktplatz, d. h. um die Mitte des 15. Jahrhunderts, aber von einer Einrichtung auszugehen, die wichtige Rechtstitel in Form von Schriftstücken aufbewahrte. Hierzu zählte auch die älteste erhaltene Urkunde der Stadt von 1325. Dass dennoch erhebliche Lücken in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferung der Stadt bestehen, rührt womöglich von schweren Bränden im 15. und 16. Jahrhundert her. Einen Überblick über die früheren Bestände bietet ein Repertorium („Inventarium“) von 1675.

Eine erste systematische Sichtung wie auch Nutzung des Archivs erfolgte in den 1860er Jahren durch den Vorsitzenden des „Localvereins für die Geschichte von Gießen“ Hofgerichtsrat Dr. Friedrich Kraft. Ergebnis seiner Forschung war ein dreibändiges handgeschriebenes Urkundenbuch der Stadt Gießen. Den Zustand des Archivs beschrieb Kraft als völlig ungeordnet.

Die enge Verbindung zwischen dem Geschichtsverein (seit 1889: Oberhessischer Geschichtsverein, kurz: OHG) und dem Archiv äußerte sich darin, dass ersterer angesichts des geplanten Archivumzuges in geeignetere Räume 1893 die Neuordnung sowie Inventarisierung der Bestände anregte. Bis dahin lagerten die Rechnungsbücher, Akten usw. im Keller der Bürgermeisterei, Ecke Südanlage-Gartenstraße – jetzt sollten sie in ein Nebengebäude umziehen. Mit den Ordnungsarbeiten betraute man Dr. Karl Ebel, der das 1895/96 als öffentliche Institution mit festem Budget und klarer Zuständigkeit eingerichtete Stadtarchiv bis zu seinem Ableben 1933 nebenamtlich leitete. Im Hauptberuf war er Bibliothekar (seit 1921 Direktor) an der Universitätsbibliothek. Mehr als anderthalb Jahrzehnte wirkte er als Gießener Stadtverordneter.

Unter Ebels Leitung stand das Archiv bereits der öffentlichen Nutzung offen, wie dem „Wegweiser durch die Universitätsstadt Giessen“ (1907) zu entnehmen ist: „Sprechstunden: Mittwochs 4-6 Uhr im Archiv“. Mit dem Erwerb von Unterlagen mehrerer Zünfte, u. a. der Bäckerzunft, erfuhr die amtliche Überlieferung eine stadtgeschichtlich bedeutsame Ergänzung privater Herkunft. Dagegen kamen die Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten damals nicht zum Abschluss.

Die weitere Archivgeschichte ist durch eine Vielzahl an Umzügen bestimmt und auch dadurch, dass wegen der nebenamtlichen Betreuung keine Kontinuität in der Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung möglich war. Katastrophale Folgen für die Überlieferung hatte indes der von NS-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg. Denn längst nicht alle Archivalien waren rechtzeitig evakuiert worden, als Gießen im Dezember 1944 infolge alliierter Luftangriffe größtenteils in Schutt und Asche gelegt wurde. So gingen viele jüngere Unterlagen unwiederbringlich verloren, mit dem Zinsregister von 1495 aber offenbar auch eines der ältesten Stücke. Zu den Verlusten zählt auch das Archiv der israelitischen Gemeinde in Bezug auf Schule und Wohltätigkeit. Dieses Schriftgut war wenige Jahre vorher im Zuge des NS-Terrors gegen Jüdinnen und Juden und der erzwungenen Auflösung ihrer religiösen Gemeinschaften dem Stadtarchiv übergeben worden.

Nach 1945 führte das schriftliche Gedächtnis Gießens zuerst ein Schattendasein. Es fehlte an allem: an Personal, Kompetenz, Räumlichkeiten, Überblick, Ordnung und Vernetzung. Auch war das Verständnis der Stadtverwaltung für die Belange des Archivs kaum entwickelt. So war es von 1950 bis 1964 mit der Stadtbücherei und dem Oberhessischen Museum unter dem Dach der „Städtischen Sammlungen“ verwaltungsmäßig vereinigt – und rangierte dabei unter ferner liefen. Ein eigenes Profil konnte nicht entwickelt werden. Aus Sicht der Erforschung der Geschichte der NS-Diktatur kommt bedauerlicherweise hinzu, dass ein Großteil der Unterlagen aus der Zeit nach 1933 nie den Weg ins Archiv fand. Wenn Berichte stattdessen für 1945/46 den Verkauf großer Mengen Altpapier vermerken, liegt der Verdacht nahe, dass es um das Gegenteil dessen ging, was Eingang in die Gesetzgebung von heute gefunden hat: (nachträgliche) Transparenz von Verwaltungshandeln.

Eine Verbesserung der äußeren Umstände und der personellen Situation stellte sich Mitte der 1960er Jahre ein. Unter der nebenamtlichen Leitung von Prof. Erwin Knauß arbeitete das Stadtarchiv nun enger mit der Verwaltung zusammen, bewerkstelligte die Ordnung und Verzeichnung der Altbestände sowie neuerer Abgaben und machte mit Ausstellungen, Publikationen und Vorträgen (häufig in Kooperation mit dem OHG) auf seine stadtgeschichtliche und kulturelle Bedeutung aufmerksam.

Die Professionalisierung und Ausrichtung an den Bedarfen von Öffentlichkeit wie Verwaltung setzte sich fort, als mit Dr. Ludwig Brake der erste fachlich ausgebildete Stadtarchivar seinen Dienst versah (1991-2019). In diese Zeit fielen zwei Umzüge des Archivs - der letzte führte 2009 in die modernen und fachgerechten Räume des neuen Rathauses am Berliner Platz - sowie der Erwerb bedeutender Bestände aus privater Hand (u. a. Firmen- und Familienarchiv Gail). Impulse gesetzt wurden bei der Digitalisierung sowie der Forschung und Öffentlichkeitsarbeit. Entsprechend der Zunahme an Aufgaben erfuhr das Stadtarchiv eine Personalaufstockung von zwei Vollzeitstellen (1991) auf 4,75 (2021).


Literaturtipp zum Thema:

Erwin Knauß: Das Giessener Stadtarchiv. Geschichte und Gegenwart, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 60 (1975), S. 1-40 (http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2019/14028/pdf/MOHG_60_1975_S1_40.pdf

Newsletter

Bestellen Sie sich hier den Newsletter und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.